»Mein Leben?!: ist kein Kontinuum!«
Arno Schmidt wird am 18. Januar 1914 in Hamburg geboren als zweites Kind des Polizeioberwachtmeisters Friedrich Otto Schmidt und seiner Frau Clara. Zusammen mit seiner drei Jahre älteren Schwester Luzie Hildegard wächst er in dem eben im Aufbau befindlichen Arbeiter-Vorort Hamm auf – Hafen, Alster, Rathausmarkt, City=allgemein – (obwohl ich das selbstrednd auch geseh’n habe!) – waren für mich Nebensache, unbedeutend, ein selten erblickter lärmender Rand.
Die Familie Schmidt bewohnt dort eine 2-Zimmer-Wohnung in einem Mietshaus, von Arno Schmidt gegen Ende seines Lebens wie folgt geschildert: ›Neue Möbel‹ hatten Wir gar nicht: meine Mutter hatte ein paar Stücke von zu Haus mitgebracht; so viel ich weiß 1 großes Bett und 1 kleines; 1 Küchentisch und 2 Stühle; 1 Truhe und 1 Schrank. Etwas hatte mein Vater auf Auktionen gekauft, bzw. auf Inserate in Zeitungen hin,›second hand‹ (wenn’s hoch kam – meist wird’s wohl die 4. oder 5. gewesn sein). Überall Gaslicht. Auf dem Küchenherd (für Kohlenfeuerung; vorausgesetzt, daß welche da waren ... so die erstn 6=7 Jahre meines Lebms war das gâr keine Selbstverständlichkeit!; Wir haben im Kriege & danach nicht nur gehungert, sondern auch gefror’n): auf dem Herd also stand ein kleines GasKocherchen: kein Elektrisch! Eine Wohnung ›mit Elektrisch‹ war noch 10 Jahre später eine begehrte Rarität. – ›Bad‹? Wir waren stolz & verwöhnt, daß Wir ’n WC hatt’n! Wasser gab ein Hahn über dem kleinen, durchaus eisernen Ausguß in der Küche. Einen Keller hatten Wir nicht; dafür einen BodenRaum, (wo wunderlicherweise auch die Kohle lag, die außen am Hause hochgehievt wurde). Eines muß noch betont werd’n zur Charakterisierung unsres Lebens dort: die Mentalität meiner Eltern war so gruselich, daß Wir die ›Gute Stube‹ vorn, (die mit dem Balkong), nie benützten! Wir hausten, jahraus=jahrein, nur in der Küche! (Mit Ausnahme der Tage vom 24. Dezember bis 1. Januar.) In drangvollster Enge; in Koch= und WäscheDunst, (die näm’ich in der Küche getrocknet ward: unter der Decke zogen sich Leisten mit eingeschraubten Haken hin, wo die Leinen gezogen wurdn. Ich seh’s ungefähr noch vor mir: die weder geräumijen noch reinlichen Gemächer, die Fenster mit gutem festem Papier verklebt; das TafelService wie von Blohm & Voß; die ›SteckrübmWinter‹, (und noch lange nach dem Kriege war ›LungenMus‹ oder Haschée aus Euter & Gedärmseln ein SonntagsEss’n – wozu bei Uns freilich noch gravierend hinzutrat, daß meine Mutter vom Kochen keine Ahnung hatte: wo hätt’ Se’s auch, als 15=16 jähr’je Mutti, gelernt habm soll’n?!). Die Folge solcher Verhältnisse: Ich kann, als Resultat so enger dürftijer Kindheit, nich großzügich denk’n. Ich habe nie gelernt, mich richtich zu benehmen, in keiner Gesellschaft – aber das teile ich ja auch mit den Meist’n. Speziell Mir eign war die Isoliertheit, von BabyBeinen an: um mich unbestimmtes Lächeln / Zürnen auf unbestimmten Gesichtern: so schlecht sah ich! (und meine Eltern, grausam unerfahren & indolent, hielten’s für kindische Unaufmerksamkeit, wenn ich mein’n Vater auf 20 m nur noch als blauen Fleck sah, und ihn nicht erkannte – in der VolksSchule hatte’s der Lehrer natürlich am 1. Tage weg, was mir fehlte. Aber immerhin): Ich hatte, 6 Jahre lang, eine gewisse Abgesperrtheit von der Außenwelt erfahren.
Gefördert wird diese »gewisse Abgesperrtheit« wohl noch dadurch, daß Schmidt sehr früh lesen lernt, im Alter von drei Jahren, parallel zu seiner Schwester. So wird ihm denn die Volksschule, die er ab Ostern 1920 besucht, schnell langweilig; er besucht sie ungern und findet nur wenig Anschluß an Schulkameraden. Er wich seinen Kameraden aus, unter denen er nur äußerlich heimisch war. – Früh zieht er sich zurück in seine Lesewelten, Tagträume und längere Gedankenspiele: So ging er zu dem flachen eisernen Küchenherd, in dessen dunkler Ringöffnung ein paar Flämmchen woben, und wollte eben auf den Stuhl daneben klettern, um mit seinen schlichten ernsten Augen in das dürftige Feuerspiel zu sehen, – stundenlang konnte man so in roten felsigen Hochländern und funkelnden Sandwüsten wandern, oder behutsam winzige Papierschiffchen auf ein noch schwarzes Stück Kohle setzen, und mit vergehendem Herzen warten, bis das rote Meer lautlos an die verkohlenden Planken schlug (aber die Zaubermannschaft rettete sich) ... Zu seinen ersten Leseerlebnissen gehören Jules Verne und Karl May – und beide Autoren werden ihn zeit seines Lebens beschäftigen: Bücher Jules Vernes geben die Vorlage für zwei seiner eigenen Romane ab (»Die Gelehrtenrepublik« (1957) und »Die Schule der Atheisten« (1972)), über Karl May schreibt er in den 50er und 60er Jahren mehrere hundert Seiten Essays und Funkdialoge sowie die große literaturpsychologische Studie »SITARA und der Weg dorthin« (1963).
Im September 1928 stirbt überraschend der Vater, und der Rest der Familie geht nach Schlesien, woher Schmidts Vorfahren mütter- und väterlicherseits stammen. Clara Schmidt zieht mit ihren beiden Kindern ins Haus ihrer Mutter nach Lauban, rund 20 km östlich von Görlitz. Kleinstadt von 14000 Einwohnern. Große TaschntuchFabrikn; EisenbahnAusbesserungsWerk. Bei LESSING findet sich irgndwo ein Brief, des Sinnes: der Magistrat von L könne ihn kreuzweis’: Ich habe dem nichts hinzuzusetzen. – Mein Lebm verlief, von da an, wunderlich ›geteilt‹: Ich wohnte zwar in Lauban, Walkgasse 12; ging aber nach Görlitz auf die OberRealschule.; (in L selbst gab’s nur ein fürchterlich ehrwürdijes Gymnasium; so eens mit Hebräisch als erster Fremdsprache): Ergo mußt’ich täglich mit der Bahn fahren: ›Lauban= Lichtenau= Nik’lausdorf= Hermsdorf= Moys=Görlitz‹, 45 Minutn jede Tour; (und manchmal warens 2 Mal am Tage). – An dieser Schule (etwa einem heutigen neusprachlichen Gymnasium vergleichbar) können sich endlich seine weitgespannten Interessen entfalten und finden Unterstützung durch die Lehrer: Mathematik begeistert ihn, aber auch Fremdsprachen, alte Geschichte und natürlich weiterhin die Literatur. Über fremde Religionen hält er im Unterricht Vorträge und erhält dafür von seinen Mitschülern den Spitznamen »Allah«. Ein »schwärmerischer Jüngling« ist er: Ich erinnerte mich doch stets wieder blitzschnell der seligen Jünglingszeit, wo man vor keinem Menschen hatte stramm stehen brauchen, es kein »Ehrenkleid« gab: hei! Wie war ich durch die Nachtfunkelei gelaufen, auf dem Fahrrad über die Hohwaldchaussee gebraust, hatte hastig vom starken dunklen Biere getrunken, augenweit und haarumwallt. Noch kamen die Bilder in meine Träume, that on their restless front bore stars, auf meine ruhelose Stirn. Oh, ich war bereit zu jeder Rebellion gegen vieles Geehrte! Ich!
Und wie es so manchem Oberschüler geht, der im Deutschaufsatz eine Eins bekommt: Schmidt fängt an Gedichte zu schreiben:
Der Mond steht blaß, ein Kupfergong
sehr hoch im Äther
auf gläsernen Stengeln
wiegen sich Tulpen
im Winde der Wiesen
durch die warme Abendluft
kommen Schritte
Mandolinenspiel im Dämmerschein.
Nun kehre ich ein
bei Kräutern und Riesen.
Im Frühjahr 1933 macht Arno Schmidt sein Abitur; in Deutsch, Englisch, Geschichte, Erdkunde, Mathematik und Chemie erhält er ein »Gut« (in Biologie sogar ein »Sehr gut«), Französisch und Physik sind nur »genügend«. Auf dem Zeugnis findet sich außerdem die Notiz: »Schmidt will Bankbeamter werden.« Ob Arno Schmidt dies tatsächlich hat werden wollen, entzieht sich heutiger Kenntnis; ein Schulfreund Schmidts hat später bezeugt, daß seines Wissens viele Klassenkameraden bei dieser Lehrerfrage aus Jux falsche Angaben gemacht hätten. Jedenfalls: An ein Studium ist angesichts der bescheidenen finanziellen Verhältnisse der Familie nicht zu denken und eine Lehrstelle ist bei Millionen von Arbeitslosen kaum zu finden. Nach einem halben Jahr vergeblicher Suche (während dem er möglicherweise einige Mathematik- und Astronomie-Vorlesungen als Gasthörer an der Universität Breslau gehört hat) besucht Schmidt die Höhere Handelsschule in Görlitz, wo er wohl die Grundlagen kaufmännischen Rechnens, Stenografie und Schreibmaschine lernt, bis er im Februar 1934 endlich eine Stelle als kaufmännischer Lehrling (nach der Lehre dann als grafischer Lagerbuchhalter) bei der damals größten ostdeutschen Textilfabrik erhält, den Greiff-Werken im benachbarten Greiffenberg.
Kurz nachdem seine Mutter den Lehrvertrag unterschrieben hat, schreibt Arno an seinen schon erwähnten Schulfreund: Heinz! Hast du jemals 1100 Bogen nach Nummern geordnet, wenn neben 47 die Nr. 983 liegt, welche der Nachbar von 709 ist? – – : Ich habe!! Schon 3 Tage!! Erlaß es mir, meine Arbeit weiter zu schildern: ich mache in Stumpfsinn. Die Tätigkeit als Lehrling bleibt stumpfsinnig und weit unter seinem Niveau, aber bald weiß er Abhilfe. Ein Jahr später heißt es in einem Brief an den gleichen Freund: Und wenn ich den dümmsten Brief an irgendeinen Kunden schreibe, so brauche ich nur einem Buchstaben eine kleine Drehung mit der Feder zu geben, und er ist auf einmal ein Fisch geworden und schwänzelt davon und erinnert in einem Augenblick an Flüsse und Bäche, an den Ozean Homers und alles Kühle und Feuchte in der Welt. – Ich pfeife leise die ersten Takte der kleinen Nachtmusik, und siehe, da ist das Zimmer verschwunden, und ich gehe in schwarzsamtnen Kniehosen langsam durch einen abendkühlen rauschenden Park, bunte Lampen hängen in den Bäumen, und auf einer dämmernden Wiese tanzen Damen in Reifröcken, drehen sich steif oder anmutig und immernoch zirpt die Musik, die altmodische Musik. – Oder ich denke an einen Vers Homers, wie er anschwillt und verebbt und stürmt und näher zieht und braust, und die Erde ist auf ein mal eine Scheibe geworden, schwimmend auf dem Okeanos – Symbol der Unendlichkeit. – Da ist Vieles, die entzückenden altmodischen Ritterromane meines Lieblings Fouqué, die wunderlichen Märchen E.T.A. Hoffmanns, die weiten Bereiche der Weltgeschichte, Wandrer und Dichter, Lieder und Werke. Denn ich bin ein großer Zauberer! Dies ist meine Geschichte von der goldenen Spur; suchet, so werdet ihr finden!
In den Greiff-Werken lernt Schmidt die 1916 geborene Sekretärin Alice Murawski kennen; am 21.8. 1937 heiraten die beiden, und am Tag nach der Hochzeit hört sie – seinem Wunsch gemäß – auf, in der Fabrik zu arbeiten. Sie ziehen in eine Werkswohnung in Greiffenberg; die Ehe wird, wie gewünscht, kinderlos bleiben. Da auch Schwester Luzie längst geheiratet hat (1931 – einen Kaufmann jüdischen Glaubens, was das Paar zur Flucht erst nach Prag, dann in die USA zwingt) und die Großmutter gestorben ist, verkauft Clara Schmidt das Haus in Lauban; aus dem Arno Schmidt zustehenden Erbteil des Erlöses kann er sich und seiner Frau eine Wohnungseinrichtung kaufen und im August 1938 sogar eine kleine Hochzeitsreise nachholen: Mit Bahn, Flugzeug und Schiff geht es nach London, für das sie bei sieben Reisetagen drei Tage Aufenthaltszeit haben. Immerhin: Es wird die einzige »größere« Auslandsreise sein, die die Beiden in ihrem Leben zusammen machen.
Zwei Jahre später beginnen für Schmidt die unfreiwilligen Reisen alla tedesca: 1940 wird er zur Artillerie eingezogen. Ein dreiviertel Jahr ist er im Elsaß, ab 1942 in Norwegen. Er hat, wie man so sagt, Glück im Unglück: In beiden Ländern nimmt er an keinen Kämpfen teil, sondern versieht langweilig-stumpfsinnigen Schreibstubendienst, der ihm viel Zeit läßt für das, was er schon (nach Aussagen seiner Arbeitskollegen) im Büro der Greiff-Werke nach äußerst rascher Erledigung seines täglichen Arbeitspensums gemacht hat: das Berechnen einer 10stelligen Logarithmentafel und das Verfassen eigener literarischer Werke. Es sind erste Handübungen eines noch lange nicht angehenden Schriftstellers, romantische Naturgeister-Märchen zumeist im Tone seiner Lieblinge Fouqué, Hoffmann und Tieck – oder dem, was der junge Schmidt für diesen Ton hält. Erzählungen, interessant als Entwicklungsstufe des späteren Großautors, und zu Lebzeiten Schmidts (mit einer Ausnahme) auch nicht veröffentlicht. Soweit bekannt, hat Schmidt sich vor 1945 nie um eine Publikation dieser Texte bemüht; vielmehr hat er sie mit Feder und in seiner akkuraten deutschen Buchhalterschrift in blanko Oktavbändchen und -heftchen geschrieben und diese jeweils einzigen Exemplare seiner Frau zu Geburtstagen und zu Weihnachten geschenkt. Da ich dieses Jahr arm bin und dir nicht soviel schenken kann, wie ich möchte – und alles möchte ich dir schenken, du weißt es – will ich versuchen, Dir von Büchern und Dichtern zu erzählen. Vieles, vielleicht das Meiste, habe ich Dir schon gesagt, manches wird neu sein. Dies ist nur ein Versuch; noch können Jahrzehnte hingehen, ehe ich genug weiß, um wirklich etwas Bleibendes von Dichtern sagen zu können – aber du wirst mich verstehen und nur Du heißt es in der Widmung an Alice in den 1940 geschriebenen »Dichtergesprächen im Elysium«.
1943 fällt Alice Schmidts jüngerer Bruder Werner an der Ostfront, mit dem Arno Schmidt eng befreundet war; 1951 wird er ihm in einem Gedicht seinen Kurzroman »Schwarze Spiegel« widmen: Wissen Sie: dieses Buch ist für / Werner Murawski; / geboren den 29. 11. 1924 / in Wiesa bei Greiffenberg am Gebirge; / gefallen am 17. 11. 43 vor Smolensk; / wie unschwer zu errechnen / noch nicht 19 Jahr alt. Und er / der einzige Bruder meiner Frau, / der Letzte, / mit dem zusammen ich jung war: Oh: / auf der Flußscheib entstand / Schwatz und Gelächter; Himmel mit Wolken beschrieben; / zart prahlte Schlagergesang aus dem treibenden Boot. / Heimweg: Señor Abendwind; hinten der spitze Mond, / und wir 3 umeinander: Du ach, Alice und ich – / Siebenundzwanzig wäre er heute. – / Und bereits wieder schwatzt jede Parte / von gemeiner Wehrpflicht: Was?!! – Kammerknechte: / Kobold und Eule: / was krallt ihr die Pocher nicht fort: / Werner schläft.
Anfang 1945 meldet sich Unteroffizier Schmidt freiwillig zum Fronteinsatz – nicht aus plötzlich erwachtem Kampfgeist, sondern weil in diesen letzten Kriegsmonaten nur noch Frontkämpfer Heimaturlaub erhalten. Und da die Sowjet-Armee auf Schlesien zumarschiert und die Eroberung Greiffenbergs nur noch eine Frage von Tagen ist, möchte er nach Hause, seiner Frau beim Zusammenpacken des Nötigsten und bei der Vorbereitung zur Flucht helfen. Ich dachte daran, wie ich, 2 Säckchen auf der Schulter, aus dem brennenden Tor der Heimatstadt geschritten war. – Das werde ich nie vergessen, wie ich zum letzten Male vor meinen Büchern stand und mich abwesend in den Räumen umsah; glücklicherweise war noch etwas Schnaps im Spind gewesen, und der Körper quälte mich nicht, ich fühlte ihn nicht, die leichte Last nicht, und auch der inferiore Teil des Geistes, der diesen schäbig umgehängten Leib beordert, war von mir getrennt. So konnte ich breitbeinig dastehen, die Hände in den grünen Manteltaschen (denn es war schwarz-weißer Winter draußen, und Naßluft schüttelte kurzstößig). Der Kopf schwebte im Raum. In dem es ganz still war.
Im Februar 1945 macht sich Alice Schmidt auf den Weg zu ihrer Schwiegermutter, die mittlerweile in Quedlinburg lebt; in einen großen Rucksack hat sie das Nötigste gestopft, darunter die bisherigen Werke ihres Mannes und eine 36bändige Wieland-Ausgabe. Der Inhalt dieses Rucksackes ist Alles, was Schmidts von ihrem Besitz retten können: Was sie, in Kisten verpackt, zu mehr oder minder Bekannten nach Westen geschickt haben (Möbel, Kleidung, Geschirr und vor allem ein paar hundert Bücher), kommt nicht an, wird unterwegs geplündert, von Empfängern unterschlagen.
Arno Schmidt muß erst noch einen »kriegswichtigen« Vermessungslehrgang in Ratzeburg absolvieren, dann kommt er, Ende März 1945, an die nördliche Westfront, die in diesen Tagen im Oldenburgischen südlich von Bremen liegt. Morgens 4 Uhr. Aprill=Grau. Zurück=weichende Fronntn.: denn wir rattern, 1945, auf Ell=Ka=Wehs, feintwerrz, (Jeder 1 Granate als Kopf=Kissn): Ich als Rechn=Trupp=Führer einer Batterie von 4 verschiedenen Geschützn – darunter 1 15=Zenntiemeetr=Lank=Rohr!; was die Schußtafl=Arbeit zwar schpannender macht, aber nicht leichter; ich werde’s dann, nächtlinx, erfahren: Manche=Anndere schlaafm.) / Allso rücklinx=liegend, über den Flug=Platz ACHMER: viele Bommbm=Crater; 1 Flack=Runntwall ( ‹La Motte› fällt mir ein). / Und dann eebm ein 4 Meeter hoher Kunnst=Wallt aus Tee=Eisn. Oobm drüber Tarn=Nettse; in die sinnlos=fleißije Hennde Föhrenzweige geflochtn haabm.: Da=runnter lagert Muh=Nietzjohn: WIR=fahren zur ‹SCHLACHT=IM=TEUTOBURGER=WALLT›:an der ich, ‹laut Wer=Paß›, teilgenommen habe. (Vergleiche MOMMSEN: Die Örtlichkeit der Varus=Schlacht, Oh leck!)
Die Kriegserlebnisse machen Arno Schmidt für den Rest seines Lebens zu einem vehementen Feind jeden Militärs und zu Beginn der 50er Jahre zu einem radikalen Gegner der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland: Lastenausgleich? – Wo die umgehend aufrüsten wollen?! Hab nichts dagegen, wenn Einer dafür stimmt: aber dann sofort herunter mit ihm von seinem Laborstuhl, Handwerksstube, Ministersessel, Pfarrsiebenschläfer und hinein in die Wehrmacht: 2 Jahre Latrine scheuern; ‹Hinlegen›! Auf, ‹Marschmarsch› und dazu schreien müssen: Ich bin verrückt, bis der Kleintyrann gnädig abwinkt; Gewehrappell mit der Stecknadel; und dem Herrn Feldwebel mit 4 Mann die Streichhölzer einzeln auf der Tischplatte raufbringen, die Jener aus m 4. Stock schmeißt, fuffzichmal, bis die Schachtel leer ist: 1937 hab ichs gesehen in Sprottau, meinen Kopf dafür!!: O du herrliches deutsches Volk! Und du Schule der Mannheit, Kommiss! Aber in der Regierung sitzen ja Alles Solche, die nischt mehr mitmachen brauchen; Keiner unter 60: was brauchen wir noch Altersheime, wo wir doch die Parlamente haben! – Über solche Fragen dürfte Niemand mitstimmen, der nicht davon betroffen wird (Anderes Thema; mir stieg die Galle zu sehr).
Am 14.4.1945 gerät Schmidt in Gefangenschaft und kommt in ein Kriegsgefangenenlager der Engländer bei Brüssel: Dämmerung: ’s war 1 Mann zu viel; sie zählten, rechneten; die Kompanieführer liefen servil hin und zurück; salutierten begeistert den Sergeanten; Wir fröstelten im Regen, dösten weltblind, stampften verstohlen; in der Küche bereiten sie den Tee (zuerst war’s was Neues: Tee hatte Deutschland seit Jahren nicht gekannt; hier kriegten wir’s Eimerweise. Verrückte Welt.) Endlich war Schluß (haben sich wohl auf Zauberei geeinigt) und wir schritten (sic!) zu den Zelten; manche fingen wieder an um das Lager zu kreisen, zu zweien, zu dreien, stundenlang. Erinnerungen, Vorträge, Aufschneiden, Zukunft, Ansichten, Bilder, Gefühle: Diskussion. Das war es. Nie haben Soldaten soviel gequatscht. Es war die (unbewußte) Reaktion auf Jahre des Schweigens und Stillstehens.
Schon nach ein paar Monaten wird Arno Schmidt wieder aus der Kriegsgefangenschaft entlassen; die Engländer haben eine Aufgabe für ihn: Er wird Dolmetscher an ihrer Hilfspolizeischule in Benefeld bei Fallingbostel in der Lüneburger Heide. Das war damals, 1946 – ich war Dolmetscher beim Polizeipräsidenten in Lüneburg, und Tag und Nacht auf den Beinen. Bald wollte Major Billingham eine Schießübung mit seinen Tommies abhalten; bald hatten DP’s – ‹Displaced Persons›: Polen und dergleichen – einen einsamen Bauernhof überfallen, und ihrem grausamen Hunger ein paar Kühe geschlachtet. Schöne Zeit damals; wir waren alle jung und hager, vorurteilslos und gewetzt. Schmidt bekommt mit seiner Frau im benachbarten Cordingen ein 12-qm-Zimmer im Mühlenhof, in dem noch 14 weitere Familien auf engstem Raum leben. Armselige Einrichtung: ein Bett mit Bretterboden, ohne Kissen und Federbetten, bloß 5 Decken. Ein zerwetzter Schreibtisch, darauf zwanzig zusammengelaufene Bücher in Wellpappkartons als Regälchen; ein zersprungener winziger Herd (na, der hat das große nasse Loch auch nicht erheizen können!) – Die Schule schließt im Dezember 1946, Schmidt wird arbeitslos und beschließt, das zu werden, was er wohl schon lange hatte werden wollen: Freier Schriftsteller. Damit beginnt aber für das Ehepaar Schmidt ein Hungerleben, wie es heute in Deutschland nicht mehr vorstellbar ist. Wenn Schmidt später seine Erzählung »Schwarze Spiegel« im Manuskript den Waldstücken nordwestlich von Cordingen, die mich vier Jahre lang wärmten und nährten widmet, ist das wörtlich zu nehmen: Schmidts sammelten regelmäßig Holz, Pilze, Beeren und versuchten sogar, aus Eicheln etwas Eßbares zu bereiten. (‹Eßbar› bist letzten Endes auch=Du.) Größte Überlebenshilfe aber waren die amerikanischen CARE-Pakete von Schwester Lucy (wie sie sich inzwischen schrieb), die seit 1939 mit ihrem Mann Rudy Kiesler, ihrer 1932 geborenen Tochter Eve und ihrem 1945 geborenen Sohn Ken in New York lebte.
Im Herbst 1949 erscheint Schmidts erstes Buch »Leviathan«, das er widmet Mrs. Lucy Kiesler New York, USA, meiner Schwester, ohne deren nimmer fehlende Hilfe ich längst verhungert wäre. Zwar werden die drei Erzählungen des Bandes von der Kritik fast einhellig positiv besprochen (Hermann Hesse erkennt in Schmidt einen »wirklichen Dichter«), aber der Verkauf geht so schlecht, daß Arno Schmidt die Schriftstellerei aufgeben und sich wieder eine Anstellung suchen will. Seine Frau hält ihn davon ab: Sie hätten noch 150 DM auf ihrem Postsparbuch, die reichten noch drei Monate; solange möge er noch abwarten. Und innerhalb dieser drei Monate, im November 1950, trifft die Nachricht ein, die für Schmidts weiteres Leben entscheidend sein soll: Er erhält für den »Leviathan« den »Großen Akademie-Preis für Literatur« der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Den mit 10.000 DM dotierten Preis muß Schmidt sich allerdings mit vier weiteren Preisträgern teilen, doch die auf ihn entfallenden 2000 DM sind immer noch ein Vierfaches des Honorars, das der Rowohlt Verlag ihm für das Buch gezahlt hat. Außerdem empfängt Schmidt den Preis aus den Händen des von ihm verehrten Alfred Döblin – und somit bleibt Arno Schmidt Schriftsteller, wenn auch noch für viele Jahre unter erheblichen Selbstzweifeln, zumal er weiterhin, bis etwa 1970, von seinen eigenen Büchern nicht leben kann: Er muß »Brotarbeiten« annehmen, Übersetzungen aus dem Englischen, Aufsätze und Kurzgeschichten für Zeitungen, literaturhistorische Gespräche für den Rundfunk, der überhaupt für viele Autoren der 50er Jahre Haupteinnahmequelle war.
Ende 1950 schließen sich Schmidts der von den Landesregierungen organisierten Umsiedlung der Ostflüchtlinge an; sie hoffen, in dem ihnen zugewiesenen neuen Wohnort Gau-Bickelheim (südlich von Mainz) bessere Wohnverhältnisse zu finden. Als wir dann bei Bingen vom Rhein abbogen, wurden Gesichter flach und lang wie die fruchtbare Öde ringsum; manchmal trieb der platte Erdenbauch bucklige Runddörfer, geduckt, dächerwarzig, krötig: hier also ist das Wort vom ‹platten Lande› entstanden. Zuerst wollten wir gar nicht aussteigen, als sie in Gau-Bockenheim am Zuge entlang schrien: ein zu einsamer Bahnhof; Nieselwetter, Niemandswetter; aber das Komitee stand schon zum Empfang. Ein Landrat, Einer vom Wohnungsamt, ein Bürgermeister, und die schillernden Wortblasen stiegen und platzten: »... meine Tür stets offen finden!« (das war der Landrat; zunächst stand nur seine PKWtür offen, er ringelte sich hinein: rrr rrr rrr: weg; hats geschafft); »... ä roin katolscher Oat; ... Alles gutt katolsche Leut ...« das kam zwischen dem Lodenmantel und Gemshütchen des Ortsbullen hervor, und wir drehten einmal kurz die Augenwinkel zueinander. Für die schwereren Koffer war der Ackerwagen hinterm Traktor da, Dieselgepoche. Dann begann der Einmarsch, 135 Köpfe, von der männlichen Jugend des Dorfes unaufgefordert geleitet. Die Straßen glitschten vor Dreck und Nässe; Häuser lehnten sich betroffen aneinander; eine Abendglocke: dabei wars gar nichts Beruhigendes, bloß blechernes Gehacktes und ein Trall nach dem andern fiel hier hin und dort. (Mein Vater war zweimal in seinem Leben in der Kirche: als er getauft wurde, und 1926 beim Platzregen). Hundekalt auch. Owehoweh die Misthaufen: »Es ist zwar wohl nicht mehr mit Sicherheit zu bestimmen, in welcher Gegend der Erde das Paradies gestanden hat, aber hier keck nicht.« »Kuck ma die Figuren an den Häusern«: jaja: in kleinen Nischen standen bunte Marien und Jesusse, Gips mit Ölfarbe: drei Mark pro Kitsch, blieben angeblich manchmal in Feuersbrünsten unversehrt, bedauerlicherweise. »Bäcker Bunn«, gelbliche Ziegel, aber ein beachtlicher Wetterhahn überm First: das erste Positivum.
Es bleibt wohl eines der wenigen Positiva; Schmidts merken schnell, daß sich ihre Wohnsituation nicht wesentlich verbessert hat, hinzu kommen häufige Auseinandersetzungen mit den Vermietern, sodaß sie schon im Dezember 1951 auf eigene Initiative in das Dorf Kastel hoch über der Saar ziehen. Da ist es sehr einsam, hinten an der Saar. Schluchten mit senkrechten Wänden aus triassischem Buntsandstein; haushohe Felskerle sperren den Weg, in rostroter Buschklepperrüstung, den riesigen Wackelstein als Schädel. Wohl fühlt sich Schmidt auch hier nicht. Zwar ist die Wohnung – (zwei nicht zusammenhängende Zimmer eigentlich nur ) – jetzt etwas geräumiger, doch in den fünf Jahren Cordingen hat er die Lüneburger Heide lieben gelernt: Kiefernwälder, süß und eintönig, Wacholder und Erica; und an der Seite muß der weiche staubige Sommerweg hinlaufen, damit man weiß, daß man in Norddeutschland ist. Es wird allerdings noch Jahre dauern, bis er wieder in der »ihm gemäßen Landschaft« leben kann.
Als Schmidts 1955 Kastel verlassen, geht es noch nicht zurück nach Norddeutschland, und ihr Umzug ist auch eher eine Flucht. Denn im April dieses Jahres hat ein Kölner Rechtsanwalt sowie »ein großer Kreis weiterer Persönlichkeiten Ärgernis genommen« an Schmidts eben in Alfred Anderschs Zeitschrift »Texte und Zeichen« erschienener Erzählung »Seelandschaft mit Pocahontas« und Anzeige erstattet wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften; Mitte der 50er Jahre stehen auf diese Straftatbestände hohe Geld-, bzw., da Schmidt diese nicht hätte bezahlen können, Gefängnisstrafen. Im August 1955 wird Schmidt vor dem Amtsgericht Saarburg von einem Ermittlungsrichter vernommen, der ihm (laut Tagebuch Alice Schmidt) gleich zu Beginn mitteilt: »Ich halte das ganze für Schmutz und Schund, wenn Sie auch andere für einen der bedeutendsten Prosaisten Deutschlands halten mögen. Der feine Herr Andersch wird sich auch noch umsehen.« Nach dieser Vernehmung rechnet Schmidt in dem für ihn zuständigen katholisch-konservativen Gerichtsbezirk Trier nicht mit sonderlich aufgeschlossenen oder gar verständigen Richtern und sucht fieberhaft nach einer neuen Wohnmöglichkeit. So wendet er sich auch an seinen Kollegen Ernst Kreuder, der wie er Mitglied der Neuen Darmstädter Sezession ist (die einzige Künstlervereinigung, der Schmidt je angehört hat). Der Sezessions-Vorsitzende, der Maler Eberhard Schlotter, kommt Ende September kurzerhand mit einem LKW nach Kastel und fährt Schmidts samt ihrem kleinen Hausstand und Katze Purzel nach Darmstadt. Die Stadt will an ihre Jugendstiltradition anknüpfen und ist dabei, die Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe wieder zu beleben; Schmidts beziehen jedoch aus Termin- und Finanzgründen eine Einzimmerwohnung in der Inselstraße. Die Stadt hilft ihnen mit einem zinslosen Darlehn und einem Begrüßungsgeld von 300 DM.
Und die Flucht erfüllt auch ihren Zweck: Der jetzt zuständige Generalstaatsanwalt gibt bei Hermann Kasack, dem Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ein Sachverständigengutachten in Auftrag, das klären soll, »ob es sich bei dem Prosastück ›Seelandschaft mit Pocahontas‹ um ein Werk der Kunst handelt«. Kasack bejaht dies in seinem ausführlichen Gutachten nachdrücklich, worauf das Verfahren am 26. Juli 1956 eingestellt wird.
Zehn Jahre Dorfleben haben Arno Schmidt gegenüber dem Lärm und Betrieb einer Großstadt besonders empfindlich gemacht: Die langen Straßen, autoüberströmt; Mädchen stiefelten drüben, ein Postbote radelte seines blaugelben Weges gefüllt mit Telegrammen und schlimmen Nachnahmen. / Näher kommen: die Preßlufthämmer rasten (langes ‹a›), daß uns die Gebisse wackelten! Dazu ein tauber Nachbar, der die Geige ohne Lehrer gelernt hat. »Und hier wohnen Sie ausgerechnet?!« Ja, leider; ‹Dichter und ihre Gesellen›. (Während des Treppenhochsteigens dies ‹leider› noch weiter erläutern: Lüneburger Heide; Freund barometrischer Tiefs; von Wacholdern. / »Mau!!« (und das Männchen hing hinter der Eisglaswand): »Purzel.« Er besah den Besucher mißtrauisch, und fächelte einmal kurz mit der Schwanzspitze. Ging auch voran in unsere eine Stube, Wohn=, Schlaf=, Eß=Raum, sowie Folterkammer (man kann’s auch ‹Arbeitszimmer› nennen; oder, ganz vornehm, ‹Studio›). / Finsterer Korridor: hinter der Kurve der zarte Lärm des kleinen Staubsaugers, den ich meiner Frau zum Geburtstag geschenkt hatte. Auch die (durch Alice Schmidts Tagebuch belegten) häufigen und häufig unangemeldeten Besuche von Kollegen, Journalisten, Lesern stören den an konzentrierte, ruhige Arbeit gewöhnten Schmidt aufs äußerste. So entstehen in den drei Darmstädter Jahren fast ausschließlich kurze Erzählungen, Aufsätze und Radiodialoge; einzige Ausnahme ist der Roman »Die Gelehrtenrepublik«, für dessen Niederschrift er nur 13 Tage braucht. Wie schon »Tina oder über die Unsterblichkeit« und »Goethe und Einer seiner Bewunderer« ist die »Gelehrtenrepublik« zu einem guten Teil Satire auf die Darmstädter Künstlerkolonie.
Ab Sommer 1957 fahren Schmidts mehrfach auf Wohnungssuche in die Umgebung von Bremen (ein geplantes aber nie geschriebenes Buch soll dort in dem Dorf Lilienthal spielen), doch findet sich nichts für sie Geeignetes. Schließlich hören Schmidts von Eberhard Schlotter, daß in Bargfeld, einem Dorf im Landkreis Celle, in dem Schlotters Eltern wohnen, ein kleines Haus preiswert zu erwerben sei. Im Oktober 1958 wird das Haus besichtigt; in einer »Akte Bargfeld« werden dann die ersten Eindrücke festgehalten und das Für und Wider erwogen:
1. Ort: Bargfeld liegt 20 km NO von Celle (dies Sitz d. zuständigen Behörden) / Einwohnerzahl 350 ( 45 Häuser) / Verbindungen: in Eldingen, 3 km S, Bahnstation der Linie Celle Wittingen. – Die Landstraße selbst hört im Ort auf, da weiterhin nur Moor und ödeheide; also keinerlei Durchgangsverkehr; absolute Stille garantiert (und durch 2 Übernachtungen erprobt). / Poststelle beim Gastwirt (dort auch ein öffentlicher Fernsprecher). Ein weiteres Telefon beim Kaufmann. Keine Kirche (!). Schule am anderen Ortsende, bei Schlotters; also auch diese Lärmquelle quantité négligeable. / Bei Wahlen 30% SPD=Stimmen. / Kohlenhändler und Wäscherei in Eldingen; kommen ins Dorf. / Flüßchen Lutter (Badegelegenheit schwierig zu finden (Fischteiche? ›Bei 20 Mark Strafe ..?‹) ein offizielles Bad in Eldingen). / Die Häuser des Ortes liegen um einen, mit einem ›Eichenkamp‹ bestandenen, Dorfplatz; dies die ›City‹ mit Wirtshaus, Feuerspritze und Ortsbulle. // 2. Umgebung und Klima: weite ›Parklandschaft‹; d.h. Flächen (20% Äcker; 80% Wiesen und Weiden) durchsetzt mit Waldstücken (Bauernwald) von meist 500 x 250m Größe. Etwa 50% der gesamten Umgebung Wald. / Feuchte Niederungen von prächtigstem Moorcharakter; gegen NO sogenannte ›Wilde Moore‹, d.h. solche, in denen Wanderer, ohne irgend Aufsehen zu erregen, versinken können (panzersicher!) In dieser Richtung kann man 50 km gehen, ohne irgend ein Haus zu erblicken! / Heideflecken mit Wacholdern eingesprengt. Waldungen nicht ideal, da allzusehr ›verpitzelt‹, (wie der Schlesier sagt); aber doch die erforderliche Landschaft für Bücher mühelos hergebend. Mond, Nebel & Regen erste Qualität; auch im Trinkwasser war, selbst mit dem bösesten Willen, kein Jauchegeschmack spürbar. / Vieh draußen auf freier Weide. – Im Winter kommen Rehe, Hasen, Füchse bis vors Haus. Es folgen in der Akte eine eher technische Beschreibung des kleinen Fachwerkhauses und finanzielle Berechnungen, dann abschließend die Endurteile:
1) rein sachlich betrachtet erscheint auch mir das Objekt preisgünstig (Fachleute für Holz & Stein, die 3 Schlotters, meinten das Gleiche – nur der Alte dissentierte ein wenig; aber er, der seit 12 Jahren dort wohnt (und seine eigene Langlebigkeit nur dem dortigen Landleben zuschreibt!) Weiß vermutlich den ›ideellen Wert‹ nicht zu würdigen: 3 Jahre Darmstadt würden ihn in dieser Hinsicht arg verinnerlichen!)! 2) Was mich anbelangt: mit Darmstadt verglichen ist die Stille unschätzbar; die Landschaft, wenn auch nicht ideal, so doch, vom beruflichen Standpunkt aus betrachtet, in jeder Beziehung brauchbar; das Klima mir günstig. Der Wohnraum besser als in D.; die Aussicht vom Schreibtisch=Fenster leidlich, ins Weite=Grüne. – Nachteile sind: keine nahe Großbibliothek; Bad & Klo fehlen; die ›Hausarbeit‹ nähme für mich zu; und gleichzeitig müßte ich noch mehr literarisch arbeiten – zumindest für die nächsten 3–5 Jahre! – Dennoch: ich würde, falls ich das Geld zusammenbekäme, für Bargfeld stimmen.
Auch Alice Schmidt ist mit Bargfeld einverstanden (»Man könnte sichs ja recht hübsch machen«), und da Schmidts dank ihrer äußerst bescheidenen Lebensweise von den inzwischen regelmäßig eingehenden Rundfunkhonoraren ein Weniges haben ansparen können, und da Wilhelm Michels, ein befreundeter Studienrat, der ihnen in den letzten Jahren schon mehrfach mit Lebensmitteln, Maxwell-Kaffee und Schnaps ausgeholfen hat, bereit ist, ihnen 11.500 DM zu leihen, entschließen Schmidts sich, das Haus für die geforderten 16.700 DM zu kaufen. Ende November 1958 ziehen sie in ihren letzten Wohnort – die wenigen Freunde und Bekannte werden mit einer Postkarte informiert, daß sie ab sofort wohnen auf 10 Grad 20 Minuten 53 Sekunden östliche Länge und 52 Grad 42 Minuten 20 Sekunden nördliche Breite. – Mitte Dezember schreibt Schmidt an Wilhelm Michels: Falls ich die nächsten 14 Tage noch überlebe, müßte es eigentlich recht ersprießlich werden. Ein Teil der Bücher ist bereits aufgestellt; unten, in der ›ideellen Hälfte‹, ist tapeziert, gestrichen, exotische Lampenmorcheln sprießen aus einer Ecke – phallische Symbole. Aus dem Boden ragen Maurerköpfe (man hebt nämlich 4 Sickergruben aus); im Bad lehnt pfeiferauchend der teure Fliesenleger; der Tischler hat, nach seinem Dunstkreis zu schließen, auf meinem Grundstück eine Arrak=Ader entdeckt – ich glaube, es lebt im ganzen Dorf kein Mensch mehr, der nicht ›Vorschuß‹ von mir empfangen hätte!
Kaum sind die Umbauten beendet, geht Schmidt mit einem selbst bei ihm ungewöhnlichen Tempo wieder an die Arbeit – er will seine Schulden so schnell wie möglich abzahlen können. Und so entstehen innerhalb eines Jahres u.a. sieben große Funkessays, zwei umfangreiche Übersetzungen aus dem Englischen und der Roman »KAFF auch MARE CRISIUM«, der zur Hälfte in Bargfeld und Umgebung spielt. Die Landschaft hat sich sehr schnell als »vom beruflichen Standpunkt brauchbar« erwiesen. Auch die zehn ländlichen Geschichten aus »Kühe in Halbtrauer«, »Zettel’s Traum« und Schmidts letzter vollendeter Roman »Abend mit Goldrand« werden in einer Art Bargfeld angesiedelt sein.
1964 bekommt Schmidt vom Senat der Stadt Berlin den mit 10.000 DM dotierten Berliner Kunstpreis für Literatur (Fontanepreis); die Laudatio hält Günter Grass: »Ich kenne keinen Schriftsteller, der den Regen so abgehorcht, dem Wind so oft Widerrede geboten und den Wolken so literarische Familiennamen verliehen hat.« 1965 erhält Schmidt die mit 8.000 DM dotierte »Große Ehrengabe« des »Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie« – dann wird es einige Jahre still um ihn, denn er beginnt in völliger Zurückgezogenheit sein Hauptwerk »Zettel’s Traum« zu schreiben. »Ich habe es nicht gern gesehen, daß mein Mann Zettels Traum schrieb. Alfred Andersch sagte einmal: ein Buch schreiben, das ist Mord. Was sagte AS, wie vielen Büchern rein umfangmäßig Zettels Traum entsprach. 17? Und um wievielfach größer sagte er, daß die Schwierigkeit war, dieses eine große Buch zu schreiben als 17 Romane? Sagte er 100 Mal? Haben Sie eine Vorstellung davon, ein wievielfacher Mord das war? Keine Spaziergänge mehr – kein Sitzen im Garten – kein Sonntag – kaum die Möglichkeit eines Gespräches: auf Fragen nur abwesend nervöse Antworten: bestenfalls. – Im ständigen Gemurmel, wortprobierend, bewegten sich seine Lippen. Völlige Vernachlässigung der eignen Gesundheit. Völlige Gleichgültigkeit gegen alles, was nicht ZT betraf. Er nahm von keinem Brief Kenntnis. Schrieb keinen: jahrelang.«
Im Frühjahr 1970 erscheint »Zettel’s Traum« nach etwa 6jähriger Arbeit: 1334 Seiten im Format Din A 3, dreispaltig getippt, mit zahlreichen Randbemerkungen und Texteinschüben, Zeichnungen des Autors und handschriftlichen Korrekturen, und mit einem so komplizierten Seitenaufbau, daß es in der prä-Computer-Zeit unmöglich zu setzen ist – das ganze Typoskript wird als Faksimile veröffentlicht. Die komplette Auflage der Erstausgabe von 2000 handsignierten Exemplaren ist innerhalb von drei Monaten ausverkauft, was angesichts des Ladenpreises von 295 DM für Verlag und Autor ein unerwarteter Erfolg ist. In den Feuilletons wirkt »Zettel’s Traum« wie ein Paukenschlag: Kaum eine deutsche Zeitung läßt sich die Meldung vom Erscheinen des größten und schwersten Buches der deutschen Literaturgeschichte entgehen. Paradoxer Weise macht sich Schmidt ausgerechnet mit seinem kompliziertesten Buch über den immer noch begrenzten Kreis seiner Stammleser hinaus einen Namen. Journalisten, Fernsehreporter, Leser pilgern nach Bargfeld in der meist vergeblichen Hoffnung, mit Arno Schmidt sprechen zu können. Schönstes FerienWetter, (und folglich ein Gewimmel von Lesern, daß es die Geduld eines Apostels übersteigen würde, geschweige denn meine!) Schmidt will seine Ruhe zum Arbeiten haben und zieht sich in den siebziger Jahren noch weiter zurück, was natürlich die Neugier der Medien erst recht anstachelt.
Im Juli 1972 hat Schmidt, der schon seit Mitte der 50er Jahre an Herzbeschwerden leidet, einen Herzinfarkt. Schmidt rühmt zwar gern seine körperliche Konstitution: Allah hat mir die Knochen eines Ochsen verliehen. Und die Gabe zehn Münsterländer zu vertragen, ohne zweistimmig zu singen! Doch das jahrelange große Arbeitspensum, verbunden mit wenig Schlaf und einem regelmäßig hohen Konsum von Kaffee, Alkohol und Schlaftabletten, kann auch er nicht unbeschadet durchhalten.
Ein Jahr später steht Schmidt auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Die Stadt Frankfurt am Main verleiht ihm den angesehensten und höchstdotierten Kulturpreis der Bundesrepublik: den mit 50.000 DM dotierten Goethepreis, den vor ihm u.a. Stefan George, Albert Schweitzer, Sigmund Freud, Max Planck, Thomas Mann, Walter Gropius und Georg Lukács bekommen haben. Aus gesundheitlichen Gründen kann Schmidt den Preis nicht persönlich entgegennehmen, und so wird am 28. August 1973 in der Frankfurter Paulskirche Alice Schmidt die Urkunde mit folgendem Text überreicht: »Die Stadt Frankfurt am Main verleiht den Goethepreis des Jahres 1973 Herrn Arno Schmidt. Sie ehrt mit dieser Preisverleihung einen Dichter, der die Sprache von den starren Regeln der Grammatik befreit und sie für seine Prosa, in der die vielschichtigen Probleme des Lebens im Atomzeitalter ins Bewußtsein treten, ästhetisch konsequent neu geformt hat; den Übersetzer, dessen kongeniale Übertragungen und scharfsinnige Auslegungsversuche älterer und zeitgenössischer englischer und amerikanischer Autoren im Sinne Goethes einen bedeutenden Beitrag zur Weltliteratur darstellen; den Essayisten, Literaturkritiker und Sammler, der in seinen Arbeiten sowohl der Fachwissenschaft als auch der literarischen Welt eine Fülle anregender Einsichten und neuer Funde vermittelt hat; den Menschen, der sich aus der Grundhaltung kritischer Vernunft und überlegenen Humors für die mögliche Wahrheit und Freiheit im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft kompromißlos einsetzt.« Schmidt bedankt sich mit einer Rede, die ebenfalls seine Frau vorträgt; darin heißt es: Was mein literarisches Werk und meine Arbeitsweise anlangt, vergönnen Sie mir, etwas voranzuschicken, das meist nicht genügend bedacht wird; obschon es kennzeichnend für unsere Schriftsteller ist, die kurz vorm Ersten Weltkrieg geboren wurden: mein erstes Büchelchen ist erschienen, da war ich 36 Jahre alt. (Umstände mehrerer Art, ausschlaggebend die Hitler-Barbarei, verhinderten ein früheres öffentliches Auftreten.) / Wie unnatürlich das ist, macht der Leser sich gemeinhin nicht klar. Der organische Entwicklungsgang des GroßLiteraten – von unsern Klassikern, GOETHE / WIELAND / LESSING etcetera her geläufig; und auch unsern heutigen Jungen bezeichnend selbstverständlich – ist ja etwa der: die ersten Gedichte, mit 16=17, in Schülerzeitungen. Das erste Heft Lyrik mit 20. Vor 30 noch die ersten ‹Gesammelten Werke›, in 6 halbstarken Bänden. (Mit 35 dann die Villa an der Costa oder am Bergli.) / Dagegen stand über unserem Start – ja, über der ganzen Laufbahn – ein böses ‹Zu spät!›. Wir hatten ja nicht einmal SchreiPapier in jenen Jahren, dicht nach ’45; mein ‹Leviathan› ist auf TelegramFormulare notiert, von denen mir ein englischer Captain einen halben Block geschenkt hatte. Es ist ein wunderlich Manuskript; und die heutigen jung=Unverstandnen, bei denen angeblich ‹die Gesellschaft versagt›, dürften sich getrost daraus entnehmen, was wirkliche Sorgen sind, und was übermütige Wehwehchen. Hinzukam die unwahrscheinliche Energieleistung, mit 35 noch einmal neu anzufangen; und die fehlenden Jahre, um die man uns betrogen hatte, möglichst wieder einzubringen. / Sei es noch so unzeitgemäß und unpopulär; aber ich weiß, als einzige Panacee, gegen Alles, immer nur ‹Die Arbeit› zu nennen; und was speziell das anbelangt, ist unser ganzes Volk, an der Spitze natürlich die Jugend, mit nichten überarbeitet, vielmehr typisch unterarbeitet: ich kann das Geschwafel von der ‹40=Stunden=Woche› einfach nicht mehr hören: meine Woche hat immer 100 Stunden gehabt; und ‹Zettels Traum› 25000 erfordert! – es war ein großer Tag, als er fertig war. / ALFRED DÖBLIN hat sich, als wir uns das erste Mal sahen, mein bißchen ‹Werdegang› schildern lassen; ich machte das so kurz wie möglich ab; worauf er besorgt sagte: ‹Sie werden viel arbeiten müssen.› Das habe ich getan.
Mitten in der Arbeit an seinem Roman »Julia, oder die Gemälde« erleidet Arno Schmidt im Sommer 1979 einen schweren Schlaganfall und stirbt drei Tage später, am 3. Juni, im Allgemeinen Krankenhaus in Celle. Der letzte Satz, den er geschrieben hat, lautet: Ist Fleiß für Menschen & Tiere eine einfache (Lebens)Notwendigkeit?
© Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld